"Bilanz und Chancen der Aussiedler- und Vertriebenenpolitik" Rede aus Anlass der Podiumsdiskussion "Brauchen wir einen neuen Lastenausgleich? Heimatpolitik und Reformen in Deutschland"
Rede 24.06.2021
Impulsstatement des Beauftragten der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten Prof. Dr. Bernd Fabritius, MdB
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Rednerin oder Redner
Prof. Dr. Bernd Fabritius, Beauftragter der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten
Es gilt das gesprochene Wort!
Auch ich begrüße Sie als Beauftragter der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten herzlich zum vertriebenenpolitischen Kongress der CDU/CSU- Fraktion im Deutschen Bundestag. Der Gruppe der Vertriebenen, Aussiedler und deutschen Minderheiten gebührt Dank und Anerkennung für die Initiative und die Organisation der heutigen Veranstaltung. CDU und CSU waren die ersten, die bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit die Belange der Vertriebenen aufgenommen und sich zu eigen gemacht haben.
Dank diesem Geschichtsbewusstsein wissen wir: Krisen befördern die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit. Wie geschichtsträchtig die Debatte um Corona ist und wie tief eingeprägt im kollektiven Bewusstsein die Traumaerfahrung der kriegsbedingten Vertreibung ist, zeigt die reflexartige Wiederbelebung historischer Muster und Nachkriegsreminiszenzen. Auf der Suche nach Instrumenten der Krisenbewältigung wird die Geschichte bemüht und werden mitunter spontane Parallelen gezogen. Leider ist die vorschnelle Zusammenführung der Begriffe „Corona“ und „Lastenausgleich“ jedoch ein Fehlgriff. Ob solche Umverteilungsszenarien überhaupt Bestand haben oder die Bundesregierung bereits andere tragfähige Lösungen umsetzt, werden die Wirtschaftsexperten im nachfolgenden Podium argumentiert darlegen. Mir ist es wichtig, dass irreführende politische Konstruktionen uns nicht ablenken und den Blick auf die historische Tragweite und das Zukunftspotenzial der Vertriebenenpolitik nicht verstellen. Mit dem von Thomas Heilmann und Nadine Schön vorgelegten Buch „Neustaat“ sind wir uns alle einig: die Pandemie hat den gesellschaftlichen Zusammenhalt mit seltener Radikalität auf die Probe gestellt.
Die Pandemie hat uns symbolisch die Volatilität und Fragilität unseres Gemeinwesens vor Augen geführt. Das Virus hat uns deutlich gemacht, wie wichtig Rituale, Gemeinschaft sowie der lebendige Austausch für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft sind. Gerade das demütige Bewusstsein dieser Verwundbarkeit des Gemeinwesens sowie die Erkenntnis, dass die freiheitlich-demokratische Grundordnung, der Rechtsstaat und der gesellschaftliche Zusammenhalt keine Selbstläufer sind, sondern immer wieder aufs Neue errungen werden müssen, macht für mich den Kern der Lehren aus dieser hoffentlich bald überstandenen Herausforderung aus. Zur Heilung der Risse, die Corona hinterlässt, ist eine nach wie vor bewusste, werteorientierte und zukunftsgerichtete Heimatpolitik für unser Land unerlässlich.
Der Begriff Heimat, den unser heutiges Podium im Titel trägt, erfährt in der gesellschaftlichen Debatte eine neue Dimension – insbesondere, nachdem die neu geschaffene Abteilung Heimat des Bundesinnenministeriums die Federführung für die Heimatpolitik der Bundesregierung übernommen hat. Auf der Grundlage eines modernen, zukunftsgewandten Heimatverständnisses fördert die Bundesregierung den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die gleichwertigen Lebensverhältnisse in städtischen und ländlichen Räumen. Die heimatpolitischen Aufgaben umfassen die Gestaltung aller Fragen des Zusammenlebens von der Integration bis zum bürgerschaftlichem Engagement, die Arbeit der Kommission "Gleichwertige Lebensverhältnisse" unter unterschiedlichen thematischen Aspekten wie Daseinsvorsorge, Mobilität und demografischer Wandel sowie die Raumordnung, Regionalpolitik und Landesplanung.
Wir wollen aber viel mehr: unsere kulturelle Identität und das Bewusstsein unserer tradierten Lebensweisen stärken und diese mit dem unbedingten Gestaltungswillen für die Zukunft verbinden. Für diese moderne Heimatpolitik, für den Zusammenhalt in der Gesellschaft, ist der Staat auf aktive und verlässliche Partner wie die Heimatvertriebenen und die deutschen Minderheiten, deren Brückenbaufunktion wir in den Aussiedlungsgebieten ebenso unterstützen, angewiesen. Dieses Potenzial haben die Unionsparteien von Anfang an erkannt, es in ihr politisches Handeln einbezogen. Bis heute gehören die Sensibilität und das Engagement in der Aussiedler- und Vertriebenenpolitik unverkennbar zum Profil von CDU und CSU.
Meine Damen und Herren, Vertriebene, Aussiedler und Spätaussiedler – das sind nicht nur die schätzungsweise 14 Millionen Deutsche, die kriegs- bzw. kriegsfolgenbedingt Opfer von Flucht, Vertreibung und Zwangsumsiedlung wurden. Es sind auch die mehr als 4,5 Millionen Aussiedler und Spätaussiedler, die seit den 1950-er Jahren nach den Bestimmungen des Bundesvertriebenengesetzes in der Bundesrepublik Deutschland aufgenommen worden sind. Davon ca. 2,1 Millionen aus den mittelosteuropäischen Staaten und 2,4 Millionen aus der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten.
Die Aufnahme der letztgenannten Personengruppe findet trotz Pandemie und des damit verbundenen erheblichen Aufwandes des Bundes ungebrochen statt. Im Bereich der Spätaussiedleraufnahme konnten wir im Jahr 2020 ungeachtet der widrigen Umstände mehr als 4.300 Zuzüge verzeichnen. Umso wichtiger ist die Bekämpfung der strukturellen Altersarmut unter Spätaussiedlern und der personenkreisspezifischen Benachteiligung im Fremdrentenrecht. Ein Schwerpunkt der Aussiedler- und Vertriebenenpolitik ist die vielfältige Förderung der zahlreichen und thematisch breit gefächerten Aktivitäten der Selbstorganisationen der Vertriebenen.
Der Bund der Vertriebenen erhält als Unterstützung für seine Tätigkeit eine institutionelle Förderung von mehr als einer Million Euro jährlich. Darüber hinaus fördert die Bundesregierung mit noch einer Million Euro jährlich die verständigungspolitischen Maßnahmen sowie die BdV-Wanderausstellungen. Die Professionalisierung und Stärkung der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland als Bundesverband unterstützen wir seit Oktober 2018 im Rahmen eines dreijährigen Projekts mit 100.000 Euro jährlich. Darüber hinaus fördert der Bund weitere Maßnahmen und Programme, die die besondere Situation und die Bedarfe von Spätaussiedler berücksichtigen, zum Beispiel die Maßnahme nach § 9 Abs. 4 Bundesvertriebenengesetz. Die Maßnahme wurde 2019 evaluiert und unter dem Titel „Gemeinsam unterwegs“ auf ein neues Fundament gestellt.
Neben einer neuen inhaltlichen Ausrichtung ist hierdurch eine Flexibilisierung der Integrationsmaßnahmen für Spätaussiedler gelungen, die neben dem Austausch von Erfahrungen und Identitätsfragen auch die Eigeninitiative, Selbstverantwortung und Teilhabe der Teilnehmer stärken soll. Zusätzlich wurde der Bundesverband der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland 2019 als Träger der politischen Bildung anerkannt. Die Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen ist mit einer Förderung von 2,5 Millionen Euro für den Zeitraum 2020-2024 ausgestattet.
Erwähnen möchte ich auch die von der BKM im Jahr 2017 neu eingerichteten Kulturreferate für Oberschlesien, für die Siebenbürger Sachsen sowie für die Deutschen aus Russland, die wie die weiteren sechs Kulturreferate an verschiedenen Landesmuseen angesiedelt sind. Die Kultureinrichtungen genießen die schwerpunktmäßige Förderung nach § 96 des Bundesvertriebenengesetzes. An dieser Stelle ist es mir wichtig zu betonen, dass die Bündelung der bundespolitischen Kompetenzen, die sich aus § 96 des Bundesvertriebenengesetzes ergeben, erstrebenswert, sinnvoll und effektiv ist.
Dies wäre ganz im Sinne der Konzeption „Neustaat“, die den „lernenden Staat“ vor der „Komplexitätsfalle“ und einer Überbürokratisierung warnt. Die Vertriebenen- und Aussiedlerpolitik hat eine ausgeprägte erinnerungspolitische Komponente. Mit der historischen Aufarbeitung von Flucht und Vertreibung und mit dem Gedenken insbesondere an die deutschen Opfer hat die Bundesregierung ein zentrales Anliegen der Vertriebenenverbände aufgegriffen und vor sieben Jahren den staatlichen Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung eingeführt.
Im vergangenen Jahr jährte sich zum 70. Mal die Entstehung der Charta der deutschen Heimatvertriebenen und des Wiesbadener Abkommens. Mit dem 80. Jahr der Deportation der Russlanddeutschen gibt es erneut einen bedeutenden Jahrestag, der im Mittelpunkt des traditionellen Tages der Heimat des BdV stehen wird, und den wir würdig begehen werden. Gerade die 75. Wiederkehr des Kriegsendes hat ein nicht nachlassendes Bedürfnis nach persönlicher Erinnerung zu Tage gefördert.
Herrn Minister Seehofer bin ich deshalb für die Entscheidung über die Fortsetzung der Tätigkeit des Aufgabenbereiches „Schicksalsklärung Zweiter Weltkrieg“ des Suchdienstes des Deutschen Roten Kreuzes sehr dankbar. Im Bereich des Kriegsfolgenrechts ist der Abschluss der symbolischen Anerkennungsleistung von 2.500 Euro für die zivilen deutschen Zwangsarbeiter ein weiterer Meilenstein zur Beseitigung historischen Unrechts in dieser Legislaturperiode gewesen. Über 38.000 positive Anerkennungsbescheide konnten erteilt werden.
Mit der feierlichen Eröffnung der Dauerausstellung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“, vorgestern ist die letzte erinnerungspolitische Lücke in der Nachkriegsgeschichte geschlossen worden. Das Ausstellungs-, Informations- und Dokumentationszentrum versteht sich als deutschlandweit einzigartiger, gesamteuropäisch verankerter und international sichtbarer Lern-, Begegnungs- und Erinnerungsort. Unmittelbar verbunden mit der Erinnerungspolitik ist die Frage nach historischen Vorbildern.
Vor 72 Jahren wurde das Ministerium für die Angelegenheiten der Vertriebenen gegründet, das später zu einem Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte ausgeweitet wurde. Das Ministerium setzte Maßstäbe für die Eingliederung der vielen Menschen, die durch die Kriegswirren ihre Heimat verloren hatten und danach mithalfen, unser Land neu aufzubauen. Es war die Zeit der Umsetzung des Lastenausgleichs, ein einmaliger historischer Vorgang, dessen Voraussetzungen nicht mehr vorliegen. Die Vertriebenenpolitik ist – zwar in anderer Form und Ausrichtung, aber mit derselben Intensität – auch über 70 Jahre später ein Schwerpunkt des Regierungshandelns.
Meine Damen und Herren, Mit seiner vortrefflichen Diagnose weist der Masterplan „Neustaat“ auf das besorgniserregende Nachlassen gesellschaftlicher Bindungskräfte hin. Dafür, dass Vertriebene und Aussiedler gut gerüstet sind, um aus der Mitte der Gesellschaft als bedeutender Faktor des Zusammenhalts diesen erodierenden Tendenzen Paroli zu bieten, zeigt die positive Bilanz unserer Vertriebenenpolitik. Auf Betreiben der CDU und CSU haben Bund und Länder hervorragende ideelle sowie finanzielle Rahmenbedingungen und wirksame Fördermöglichkeiten geschaffen.
Heute Morgen hat das Bundeskabinett den Haushaltsplan für 2022 beschlossen. Dort stehen 1 Milliarde Euro zur Milderung von Personenkreisspezifischer Altersarmut. Für die deutschen Spätaussiedler habe ich dieses vordringliche Anliegen die ganze Legislaturperiode mit Nachdruck gefordert! Dass es durch diesen Kabinettsbeschluss zum Abschluss dieser Wahlperiode aufgegriffen ist, ist die Nachricht des Tages. Deswegen ist mein Blick in die Zukunft durchaus optimistisch.
Vielen Dank!