Ansprache des Beauftragten aus Anlass der wissenschaftlichen Tagung „Vertriebene in der DDR – zum Umgang mit einem Tabu“

Typ: Rede , Datum: 14.11.2019

  • Ort

    Leipzig

  • Rednerin oder Redner

    Prof. Dr. Bernd Fabritius, Beauftragter der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten

Es gilt das gesprochene Wort!

Als Beauftragter der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten begrüße ich Sie recht herzlich zu unserer heutigen wissenschaftlichen Tagung.

Gleichzeitig bedanke ich mich für die Einladung und für die Möglichkeit, eine Ansprache zu halten und einige Gedanken mit Ihnen zu teilen.

Zunächst darf ich Ihnen die herzlichen Grüße und guten Wünsche der Bundesregierung, insbesondere von unserer Bundeskanzlerin Frau Dr. Merkel, und von unserem Bundesminister des Innern für Bau und Heimat, Herrn Horst Seehofer, überbringen.

Wir befassen uns heute mit einer vielschichtigen Fragestellung: „Vertriebene in der DDR – zum Umgang mit einem Tabu“.

Zugegebenermaßen handelt es sich dabei um einen so lehrreichen wie bisher leider wenig beachteten Aspekt der Vertreibungsgeschichte. Umso größer ist das Gewicht, das wissenschaftlichen, aber auch öffentlichkeitswirksamen Diskussionen dieses Themas zukommt. Denn die Ergebnisse der Tagung sind nicht nur für die Geschichtswissenschaft wichtig.

Als für die Vertriebenenpolitik zuständiger Beauftragter der Bundesregierung erhoffe ich mir viele wichtige Impulse und weitere Erkenntnisse für meine politische Arbeit.

Aus gutem Grund wird diese Tagung durch das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat gefördert. Denn die Geschichte der Vertriebenen in der DDR ist ein Teil unserer kollektiven Biografie und unseres kollektiven Gedächtnisses.

Als ein Element der gesamtgesellschaftlichen Vergangenheitsbewältigung und der Aufarbeitung des SED-Unrechts hat sie eine ausgeprägte heimatpolitische Komponente.

Der Begriff Heimat erfährt in der gesellschaftlichen Debatte eine neue Dimension – insbesondere, nachdem die neu geschaffene Abteilung Heimat des Bundesinnenministeriums die Federführung für die Heimatpolitik der Bundesregierung übernommen hat. Die Bundesregierung ist bestrebt, auf der Grundlage eines modernen, zukunftsgewandten Heimatverständnisses, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu fördern und gleichwertige Lebensverhältnisse zwischen städtischen und ländlichen Räumen im gesamten Bundesgebiet zu schaffen.

Die heimatpolitischen Aufgaben umfassen die Gestaltung aller Fragen des Zusammenlebens von der Integration bis zum bürgerschaftlichem Engagement, die Arbeit der Kommission "Gleichwertige Lebensverhältnisse" unter unterschiedlichen thematischen Aspekten wie Daseinsvorsorge, Mobilität und Demografischer Wandel sowie die Raumordnung, Regionalpolitik und Landesplanung.

Wir wollen aber viel mehr: Unsere kulturelle Identität und das Bewusstsein unserer tradierten Lebensweisen stärken und diese mit dem unbedingten Gestaltungswillen für die Zukunft verbinden.

Insofern setzt die heutige Tagung ein Zeichen genau in die richtige Richtung.

Es ist wichtig, dass wir im 70. Jahr der DDR-Gründung und im 30. Jahr ihres Untergangs die Lehren aus der Geschichte des SED-Unrechts gezogen haben. Zwar nicht alle Menschen, wenn ich die Wahlergebnisse anschaue, aber die meisten Menschen in Deutschland. Das hat eine richtungsweisende Bedeutung für die Zukunft.

Der Deutschen Gesellschaft, der wir die Organisation dieser Veranstaltung verdanken, ist es gelungen, die führenden Wissenschaftler auf dem Gebiet der historischen Forschung der Vertriebenenpolitik der DDR für die heutigen Podien zu gewinnen.

Neben der herausragenden Podiumsrunde bin ich sehr auf den unmittelbaren Austausch mit dem Publikum gespannt, denn außer Vertretern von Politik, Medien und öffentlichem Leben sind auch Betroffene, Zeitzeugen und interessierte Bürger sowie Multiplikatoren eingeladen.

Der Bund der Vertriebenen ist heute Mitveranstalter und es ist sehr wünschenswert, dass die Ergebnisse der heutigen Tagung eine breite Resonanz finden und insbesondere in die BdV-Landesverbände der neuen Bundesländer, wo die meisten Mitglieder mit DDR-Erfahrung leben, hineinwirken.

Der sächsischen Staatsregierung bin ich sehr dankbar für die Errichtung des Amtes eines Landesbeauftragten für Vertriebene und Spätaussiedler. Unter den neuen Bundesländern ist der Freistaat Sachsen das einzige Bundesland, das für Vertriebene und Aussiedler einen Beauftragten zur Vertretung ihrer Belange und berechtigten Interessen geschaffen hat.

Lieber Herr Dr. Jens Baumann, einen herzlichen Dank an Sie an dieser Stelle für die gute und kollegiale Zusammenarbeit und für Ihre Podiumsteilnahme heute.

Sehr geehrte Damen und Herren,

das Schicksal der Heimatvertriebenen war aus dem offiziellen Erinnerungskanon der DDR so gut wie ausgelöscht. Dieser Befund ist Ausgangspunkt unserer heutigen Auseinandersetzung mit der Geschichte. Aber wie kam es dazu?

Begriffe sind, meine Damen und Herren, Zeugen ganzer Epochen. Ideologisch vorgegebene Sammelbegriffe verraten die Gesamtausrichtung staatlicher Erinnerungspolitik. Prägnant und deutlich wie kein anderes steht das Wort „Umsiedler“, das die SED bereits kurz nach der DDR-Gründung zum „ehemaligen Umsiedler“ degradierte, für die Tabuisierung und Verharmlosung des leidvollen Schicksals einer großen Bevölkerungsgruppe in der DDR.

Währenddessen etablierte sich in Westdeutschland der Begriff „Vertriebene“ bzw. „Heimatvertriebene“ als selbstgewählte Bezeichnung organisierter Betroffener und bekam 1953 mit dem Bundesvertriebenengesetz eine staatsrechtliche Verankerung.

Darüber hinaus waren weitere Begriffe – Zwangsumgesiedelte, Flüchtlinge, Evakuierte, Zwangsdeportierte, heimatlose Heimkehrer oder in der britischen sowie amerikanischen Besatzungszone gar Neubürger (new citizens) oder Einwanderer (immigrants) – im Gebrauch. Keiner der Begriffe war allein ausreichend geeignet, um das Elend des persönlichen Schicksals und die Tragweite der Vertreibung als nachwirkende Kriegsfolge zu umfassen und wiederzugeben.

Der Siegeszug des Unwortes „Umsiedler“ begann bekanntlich in der Sowjetischen Besatzungszone, in Berlin, wo bereits im September 1945 auf Befehl der sowjetischen Militäradministration eine „Zentralverwaltung für deutsche Umsiedler“ gegründet wurde.

Nach dem Willen ihres Direktors, des bayerischen Kommunisten Joseph Schlaffer, sollte „nur Antifaschisten Wohnraum zur Verfügung gestellt werden“. Ein eigentlicher Akt der Humanität und Solidarität wurde so zur Gesinnungsfrage erklärt.

Lediglich die Flut des Flüchtlingszustroms machte diese Pläne unerfüllbar. Die Wucht dieses Zustroms war übermäßig und Ostdeutschland wurde am schwersten getroffen.

So wohnte im Land Mecklenburg-Vorpommern eine ansässige Bevölkerung von rund 1,5 Mio. Menschen. Laut Mitteilungen der Militärregierung von August 1945 sollten in Mecklenburg-Vorpommern drei Millionen Deutsche aus dem Gebiet östlich der Oder angesiedelt werden. Dass mindestens noch eine weitere Million Menschen hinzukommen würde, konnte sich die Landesverwaltung kaum vorstellen.

Auf einem Raum, der bisher 1,5 Mio. Menschen in Arbeit gesetzt und ernährt hatte, müssten nun 5,5 Mio. Menschen Wohnung, Nahrung und Arbeit finden. Auch wenn diese Schätzungen Mecklenburg-Vorpommern nicht vollumfänglich trafen, verdeutlichen sie die – anhand der Berechnungen – realistische Zahl von Flüchtlingen und Vertriebenen jenseits der Oder. Es handelte sich größtenteils um Frauen und Kinder; zur Arbeit einsatzfähig waren davon nur 20 Prozent.

Auch Jahre später waren es gerade diese Schwächsten, die von der Vertriebenenpolitik des Arbeiter-und-Bauern-Staates hart getroffen wurden. Die Anknüpfung von Unterstützungsleistungen des Staates an der Werktätigen-Eigenschaft des Empfängers manifestierte ebenfalls die Ideologisierung dieser Politik. Sie führte zu einer deutlichen Diskriminierung der vielen Kinder, der versehrten und älteren Menschen, die geflüchtet waren oder vertrieben worden sind.

Ein anderes Beispiel: Allein im 30.000 Einwohner zählenden Wittenberg sollten laut „Plan der Umsiedlerbetreuung der Provinz Sachsen“ vom August 1945 nahezu 15.000 Menschen aufgenommen werden. Mit ca. 10.000 Flüchtlingen am Jahresende 1945 war diese Fünfzig-Prozent-Quote schon fast erfüllt, und der Strom der Ankömmlinge war noch lange nicht versiegt. Deshalb ist es wichtig, dass wir uns das Ausmaß der SBZ/DDR als Aufnahmegebiet bewusstwerden. Dieser Frage ist zurecht unser erstes Panel gewidmet.

Welche Strategie verfolgte die DDR bei der Aufarbeitung von Flucht und Vertreibung? Das genaue Kontrastprogramm zur Bundesrepublik. Verdrängung jeder Erinnerung, Assimilation und verordneter Heimatverzicht. Bereits der Zweite Parteitag der SED im September 1947 bereitete ideologisch die Aufarbeitung von Flucht und Vertreibung in kommunistischer Lesart vor.

Mit der DDR-Gründung und dem Görlitzer Grenzabkommen über „die friedliche Oder-Neiße-Grenze“ wurden aus Vertriebenen endgültig „ehemalige Umsiedler“. Ihrer Assimilation im DDR-System und dem verordneten Heimatverzicht stand nichts mehr im Wege. Der totalitäre Unterdrückungsstaat musste zwangsweise ihre neue Heimat werden.

Die DDR setzte auf verstärkte Repression. Wer die Oder-Neiße- Grenze in Frage stellte oder Flucht und Vertreibung thematisierte, riskierte strafrechtliche Verfolgung. Jegliche Organisation, jeglicher Zusammenschluss von Vertriebenen wurde untersagt. Aus Rundfunk und Fernsehen wurden alle Lieder und Melodien der Vertriebenen, des ehemals Deutschen Ostens, verbannt.

Für das Kriegsfolgenschicksal der Heimatvertriebenen, für ihre Entrechtungserfahrung gab es im engen ideologischen Korsett der DDR schlicht keinen Platz. Ca. 800.000 Vertriebene packten deshalb bis zum Bau der Mauer ihre Koffer und zogen weiter – in die BRD und nach Westberlin.

Für viele die das nicht getan hatten wurde dann der Rückzug ins Private die einzige Alternative – im familiären Kreis war die Vertreibung als Erinnerung an eine Ungerechtigkeit sehr wohl ein Thema, während in der Öffentlichkeit darüber nicht gesprochen wurde. Insofern bin ich dankbar, dass auch die kulturellen Aspekte einer privat organisierten Erinnerungsarbeit heute ebenfalls beleuchtet werden.

Vom „Umsiedlerdiskurs“ handelt unser zweiter Themenblock. Die Verdrängung des Themas „Flucht und Vertreibung der Deutschen“ aus dem Geschichtsbewusstsein in der DDR hat viele, ganz persönliche und emotionale Facetten.

Hierfür will ich ein prominentes Beispiel geben: Wolfgang Thierse, der ehemalige Präsident des Deutschen Bundestages, 1943 in Breslau geboren, erinnert sich: "In der DDR war all diese Erinnerung strikt Privatsache, auch die Wehmut und der Schmerz, die mit ihr verbunden waren. Sie durften nicht sichtbar, nicht hörbar werden, hatten keinen Ort, außer in den Kirchengemeinden. Wir waren ja nicht Flüchtlinge oder Vertriebene, sondern wurden offiziell Umsiedler genannt, als hätten wir einen schlichten Umzug veranstaltet. Die Unterdrückung des Schicksals und der Erfahrung von Flucht und Vertreibung ging so weit, dass es einer Kraftanstrengung bedurfte, um zu verhindern, dass Wroclaw und nicht Breslau als mein Geburtsort in den Ausweis eingetragen wurde."

Dieses persönliche Zeugnis fasst exemplarisch das Leid der mehreren Millionen Menschen in der DDR, die doppeltes Leid erfahren haben, zusammen. Sie wurden nicht nur ihrer Heimat gewaltsam beraubt, sondern auch ihrer Erinnerung.

Dennoch haben die Vertriebenen mit ihrem Mut und Zusammenhalt aus der DDR ihre neue Heimat gemacht. Hinter dem Eisernen Vorhang haben sie mit sehr viel Elan, mit starkem Willen, mit hoher Motivation und Schaffenskraft den Wiederaufbau des kriegszerstörten Landes maßgeblich vorangetrieben.

Auch sie – Sudetendeutsche, Schlesier, Ostpreußen, Ostpommern – hatten nicht nur ihren Durchsetzungswillen, unternehmerisches Können und ihre Hartnäckigkeit im Gepäck. Sie brachten Ihre Traditionen, Kultur, Bildung und Brauchtum, sie brachten ihre christliche Glaubensüberzeugung und Frömmigkeit mit. All dies wurde ausgeblendet, unterdrückt und totgeschwiegen.

Diese fehlerhafte, kurzsichtige, staatliche Politik des bewussten Vergessens und Verdrängens statt des bewussten Erinnerns ist ein bleibender kultureller Verlust, ein Nachteil, der auch 30 Jahre nach dem Mauerfall nachwirkt. Die DDR-Sozialisation hinterließ Lücken im Geschichtsbild ihrer Bürger.

Bester Beweis sind die Geschichtsbücher. Zunächst waren die Lehrwerke der DDR nur Übersetzungen aus sowjetischen Schulbüchern mit einzelnen Textpassagen von deutschen Autoren. Sie waren somit getränkt von kommunistischer Ideologie und Propaganda, verzerrten Geschichtsbetrachtungen, seltsamen Fakteninterpretationen, gezielter Verschweigung von nicht genehmen Ereignissen, Daten und Fakten oder gar kompletten Lügen und Verfälschungen.

Das Thema „Vertreibung“ bzw. „Aussiedlung“ wurde auf die Beschlüsse der Potsdamer Konferenz reduziert, alles verpackt in propagandistischen Wortschatz. Der komplette Verlauf der Vertreibungen wurde auf die im Zuge der Potsdamer Konferenz festgelegte Zwangsaussiedlung reduziert. Evakuierung, Flucht sowie wilde Vertreibungen werden überhaupt nicht erwähnt. Sie haben demnach einfach nicht stattgefunden.

Dazu möchte ich Ihnen als Beispiel eine Passage aus einem „Lehrbuch für den Geschichtsunterricht der erweiterten Oberschule. 12. Klasse“ von 1961 aus Berlin zu den Beschlüssen der Potsdamer Konferenz vorlesen: "Aus den Gebieten ostwärts der Oder und Neiße, der ČSSR und Ungarn sind alle Deutschen nach Deutschland umzusiedeln. Die Völker wollten die Sicherheit, dass sie nicht wieder das Opfer imperialistischer deutscher Aggression würden. Sie boten dem deutschen Volke zugleich eine gute Grundlage für eine demokratische Entwicklung."

Das war das Konzept der DDR-Geschichtsschreibung! Diese Version der Vertreibung blieb bis 1989 für die Schüler in der DDR unverändert.

Sehr geehrte Damen und Herren,

das besagte Jahr 1989 brachte die samtenen Revolutionen vom Balkan bis Baltikum und die friedliche politische Wende in der DDR mit. Das war ein epochaler Befreiungsschlag, der nachhaltig starke, fruchtbare Kräfte in ganz Europa in den Gang gesetzt hat.

Ein vereintes Europa mit offenen Grenzen: vor 30 Jahren fiel nicht nur die Berliner Mauer, sondern es rückte auch die alte, angestammte Heimat in Pommern, Schlesien, Ostpreußen und dem Sudetenland politisch näher und wurde wieder erreichbar. Dafür bin ich als Beauftragter der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten sehr dankbar. Vor 15 Jahren erfolgte der Beitritt der Staaten Ostmitteleuropas zur EU. Die deutschen Heimatvertriebenen reichten den seit 1945 dort lebenden Polen, Russen, Litauern und Tschechen die Hand, wie in der Charta vor 70 Jahren festgeschrieben.

Heute ist man dort willkommen wie bei Freunden.

Gerade diesen Brückenbau unterstützt das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat im Rahmen seiner Heimatpolitik mit der Förderung der verständigungspolitischen Maßnahmen der Vertriebenenorganisationen. Die Bandbreite der Aussöhnung und Verständigung erörtern wir am Beispiel der deutsch-polnischen Zusammenarbeit im Rahmen unseres abschließenden, dritten Podiums.

Dieser thematische Abschluss ist besonders wichtig. Denn er markiert nicht nur den Übergang von Vergangenheit zur Gegenwart, sondern weist den Weg in die Zukunft.

Eine Zukunft, für die es sich lohnt, die Geschichte so genau zu erforschen, wie wir das heute vorhaben. Ich wünsche uns dabei viel Erfolg.

Vielen Dank.